Vorausgegangen war die „Polenaktion“ vom 28.10.1938:
Ins „Niemandsland“, eine erste Probe von Deportationen.

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Die Volkszählung von 1933 hatte gezeigt, dass von den knapp 100.000 ausländischen Juden, die in Deutschland lebten, 56.480 polnische Staatsangehörige waren. An ihnen zeigte die Polnische Republik mit ohnehin 3,1 Mio. jüdischen Menschen keinerlei Interesse und versuchte ihre Rückkehr nach Polen zu verhindern. Das Deutsche Reich hingegen wollte sie los werden; sie unterstanden nicht dem deutschen Recht und waren immer wieder Anlass zu „Beschwerden“ und diplomatischen Verwicklungen gewesen. Alsbald nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich hatte das polnische Parlament, einen baldigen Ansturm von bis zu 20.000 jüdischen Flüchtlingen polnischer Herkunft aus dem besetzten und angeschlossenen Österreich befürchtend, am 31.3.1938 ein Gesetz verabschiedet, dass erlaubte, allen polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Nachdem deutsch-polnische Verhandlungen darüber kein Ergebnis erbrachten, folgte am 9.10. 1938 eine polnische Verfügung, nach der im Ausland ausgestellte Pässe ab dem 10.10.1938 nur mit einem Prüfvermerk des polnischen Konsulats zur Einreise nach Polen berechtigten. Die polnische Regierung wollte so einer Ausweisung der im Deutschen Reich lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit nach Polen vorbeugen. Die deutsche Führung wiederum befürchtete, dass „uns im Wege der Ausbürgerung ein Klumpen von 40-50.000 staatenlosen ehemaligen polnischen Juden in den Schoß fiele“, wie Staatssekretär Ernst von Weizsäcker gegenüber dem polnischen Botschafter Josef Lipski äußerte. Ultimativ wurde die polnische Regierung am 16.10.1938 aufgefordert, die Inhaber polnischer Pässe auch künftig ohne Sichtvermerk einreisen zu lassen, andernfalls werde man die polnischen Juden noch vor Inkrafttreten des Gesetzes abschieben. Die polnische Seite fand sich zu solcher Zusage nicht bereit. Kurz vor Ablauf des Ultimatums wurden die deutschen Polizeibehörden am 26.10.1938 angewiesen: „ (…) unter Einsatz aller Kräfte der Sicherheits- und Ordnungspolizei und unter Zurückstellung anderer Aufgaben alle polnischen Juden, die im Besitz gültiger Pässe sind, sofort unter Ankündigung formularmäßiger Aufenthaltsverbote für das Reichsgebiet in Abschiebungshaft zu nehmen und unverzüglich nach der polnischen Grenze im Sammeltransport abzuschieben. Die Sammeltransporte sind so durchzuführen, dass die Überstellung über die polnische Grenze noch vor Ablauf des 29. Oktober 1938 erfolgen kann. Es muss erreicht werden, dass eine möglichst große Zahl polnischer Juden, namentlich der männlichen Erwachsenen, rechtzeitig vor dem genannten Zeitpunkt über die Grenze nach Polen geschafft wird.“

So geschah es: In der Nacht zum 28. Oktober, „zwischen zwölf und sechs Uhr, war die Polizei in die Wohnungen eingedrungen und hatte Männer, Frauen und Kinder fortgeführt. Sie hatten kaum Zeit sich anzuziehen, sie konnten nur mitnehmen, was sie gerade zur Hand hatten und in ihrem Koffer oder einer Mappe unterbringen konnten. Dann waren sie zum Revier und von da in Autos zum Polizeipräsidium gebracht worden. Kein Alter war verschont. Das Kind von Kanarek, bei dessen Milah ich zwei Monate vorher gewesen war, war ebenso verhaftet worden wie der bald achtzig Jahre alte Simon Wolf. Auf kein Leiden wurde Rücksicht genommen. Rosenbaum-Mettmann sind beide Beine amputiert. Trotzdem wurde er in seinem Fahrstuhl zum Präsidium gebracht. Es waren in Düsseldorf im ganzen 361 Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet worden.“, erinnerte kurze Zeit danach der Düsseldorfer Rabbiner Max Eschelbacher das Ereignis und schrieb es nieder. „Von der Regierung fuhren wir zum Polizeipräsidenten. Der Chef der Ausländerpolizei, Polizeirat Graeser, zuckte auch die Achseln, es sei Befehl von Berlin, er könne nichts tun. Er erlaubte mir aber, in das Gefängnis zu gehen, … und begleitete uns selber dahin. In dem Polizeigefängnis, …, herrschte kopflose, verzweifelte Verwirrung. Die Beamten hatten die Nerven verloren und schrien einander an. Das Gefängnis ist nicht auf eine so große Zahl von Gefangenen eingerichtet und war überfüllt. In den großen Räumen im Souterrain drängten sich die Verhafteten an die Gitterfenster. In der zweiten und dritten Etage füllten sich die Korridore. Männer und Frauen aller Altersstufen, zusammengepfercht wie Raubtiere im Käfig. In verschiedenen Einzelzellen waren junge Mütter mit ihren Säuglingen im Kinderwagen. … Sie hatten kein Frühstück bekommen. Das Gefängnis selber war von den Massenverhaftungen überrascht worden. … Furchtbar war die starre Ruhe der Verhafteten. Kein lautes Wort der Klage. Die Gesichter waren vom Entsetzen verzerrt, manche konnte ich kaum erkennen. … Um 2 Uhr mußten alle die Zellen und Gänge verlassen. Im Hof wurde eine Verhandlung aufgenommen, um festzustellen, wer abtransportiert wurde. Einige wurden entlassen; fast alle wurden abgeschoben. Sie warteten an drei Stunden auf ihr Schicksal in einer trostlosen Stille. Eine junge Drau stand regungslos in einer großen und immer größer werdenden Blutlache. Sie war unwohl geworden und konnte sich nicht helfen. Ruhelos wanderten die Männer auf und ab mit dem Brot unter dem Arm, das sie inzwischen erhalten hatten, ihrem einzigen Besitztum. Es waren Frauen darunter, die einen polnischen Staatsangehörigen geheiratet hatten und dadurch polnische Staatsangehörige geworden waren. Sie waren nie in Polen gewesen und verstanden kein Wort polnisch, ihre Kinder, die in Deutschland geboren waren, wußten ebensowenig davon. Starr stand in diesem Gewühl Frau Isidor Landau, eine alte Frau aus Berlin, ihr verstorbener Mann war polnischer Staatsangehöriger gewesen, sie war seit Jahrzehnten Witwe. Allein und verlassen wurde sie nach Polen verstoßen, das sie nie gesehen hatte. … Wir konnten den Menschen nicht helfen, aber wir wollten bei ihnen sein. Sie waren im zweiten Hof. Als im ersten Hof der erste Autobus vorfuhr, um sie zur Bahn zu bringen, wollten wir sie begleiten, aber der Posten ließ uns nicht durch. Als der zweite Schub abtransportiert werden sollte, wandte ich mich an den Polizeioffizier und bat ihn, uns mit ihnen auf den ersten Hof zu lassen. Mit großer Liebenswürdigkeit geleitete er uns, weiter als uns lieb war. Im nächsten Augenblick standen wir auf der Straße. Wir warteten mit vielen anderen auf die Abfahrt der nächsten Wagen. Die Menge auf der Straße war totenstill, aber gelegentlich hörte man doch auch boshafte und hämische Bemerkungen.“ Die Ausweisungsaktion wurde am 29.10. offiziell abgebrochen, nachdem Polen die Ausweisung deutscher Staatsangehöriger verfügt hatte.

 

„Vergeltungsaktion“ - das Pogrom des 9./10. November 1938

Nur wenige Tage später, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Düsseldorf - und überall in Deutschland - die Synagogen, wurden Gemeindehäuser, Einrichtungen, Geschäfte und Wohnungen jüdischer Menschen gestürmt, geplündert, verwüstet und zerstört, Menschen in Schrecken versetzt, misshandelt, schwer verletzt, in den Tod getrieben, in Konzentrationslager verschleppt, getötet. Noch am folgenden Tag war nachgeholfen worden. In vielen Straßen der Stadt lagen die zertrümmerten Wohnungseinrichtungen von jüdischen Menschen auf dem Bürgersteig und zahlreiche Volksgenossen schauten, ob darunter für sie noch Brauchbares zu finden war. Viele schauten weg; andere waren beschämt und wieder andere wollten nicht recht glauben, was da – auch in ihrem Namen – geschehen war. Nur wenige hatten den bedrohten und misshandelten Menschen geholfen, hatten ihnen beigestanden, sie versteckt und versorgt.

Was wie eine „spontane Vergeltung von aufgebrachten Volksgenossen“ auf ein von einem aufgebrachtverzweifelten jüdischen Halbwüchsigen und „der dahinter stehenden Judenclique“ verübtes Attentat auf einen deutschen Diplomaten in Paris sein sollte - so die die Ur- und Tatsachen bewusst verdrehende und verfälschende amtliche Presseverlautbarung und Propaganda - war als „Aktion“ von oberster Stelle initiiert und forciert worden.

Herschel (Hermann) Feibel Grynszpan – so hieß der bei der Tat 17-jährige junge Mann – war am 28.3.1921 in Deutschland als poln. Staatsangehöriger geboren und aufgewachsen, dann als 15-Jähriger über Belgien nach Frankreich emigriert, wo er bei einem Onkel unter gekommen, doch nicht amtlich gemeldet war. Auf die Nachricht Anfang November 1938 hin, dass auch seine Eltern aus Hannover mit zehntausenden weiterer Polen zwangsweise unter menschenunwürdigen Umständen nach Polen deportiert worden waren, und selbst auch in verzweifelter Situation hatte er am frühen Vormittag des 7.11.1938 in der deutschen Gesandtschaft in Paris in einem Revolver-Attentat den deutschen Diplomaten, den Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath - der Botschafter, den er zunächst sprechen wollte, war noch nicht anwesend – mit zwei von fünf Schüssen auf den Körper verletzt, zuerst an der Schulter, dann an Magen, Milz und Lungenflügel, der zwei Tage später, am 9.11.1938, gegen 16.30 Uhr – trotz Notoperation und ärztlicher Versorgung in einem naheliegenden Krankenhaus - „den Verletzungen erlag“. Auch Hitler hatte zwei Ärzte, seinen Begleitarzt Karl Brandt (Mitgl. d. SS, Chirurg) sowie Georg Magnus (Prof. d. Chirurgie), nach Paris zu ihm geschickt, die am Morgen des 8.11. eintrafen, um gegebenenfalls die Behandlung zu unterstützten, und ließ sich laufend über den Zustand des verletzten Beamten unterrichten. Nach ihrem Besuch bei dem Patienten, seiner Untersuchung und einem Gespräch mit Prof. Baumgartner hatten sie in einem Kommuniqué erklärt: „Der Zustand des Herrn Legationssekretärs vom Rath ist besonders wegen der Verletzungen am Mageneingang ernst zu beurteilen. Der erhebliche Blutverlust durch die Milzzerreißung und deren Folgen lässt sich voraussichtlich durch weitere Blutübertragungen beherrschen. Die bestmögliche operative Versorgung und bisherige Behandlung durch Prof. Dr. Baumgartner, Paris, läßt Hoffnung für den weiteren Verlauf zu.“ Inwieweit die Ärzte aus Deutschland die Behandlung des Patienten unterstützt oder auf sie Einfluss genommen haben, bleibt im Dunkeln. Nach einer augenscheinlichen Stabilisierung am Vormittag des nächsten Tages, des 8.11., soll sich sein Zustand dann – entgegen der im Kommuniqué ausgedrückten Hoffnungen - nicht weiter gebessert haben, sein hohes Wundfieber habe ihm zu schaffen gemacht, wie in einem zweiten Kommuniqué am Abend berichtet: „ Das Befinden des Legationssekretärs vom Rath hat sich bis zum heutigen Abend nicht gebessert. Es bestehen ernste Besorgnisse. Die Temperatur ist geblieben. Es finden sich Anzeichen einer beginnenden Kreislaufschwäche.“ Ob beide Ärzte bei ihren Untersuchungen und ärztlichen Gesprächen auch von dem weiteren Leiden des Patienten, einer homosexuell übertragenen gonorrhoischen Mastdarmentzündung oder Magen- und Darmtuberkulose, erfahren hatten, daraus weitere Schlüsse gezogen und – in Absprache mit Berlin - nichts Entscheidendes mehr für eine entsprechende Behandlung und sein Überleben getan hatten, ist nicht hinreichend geklärt. Hitler sei diese Entwicklung recht gewesen; so hätten sie einen weiteren „Märtyrer“ und willkommenen Vorwand, Entscheidendes gegen die Juden in Deutschland voran zu treiben. Den Eltern und Brüdern, die ebenfalls nach Paris gekommen waren, um ihren Sohn zu sehen und zu sprechen, soll das Gespräch mit ihm untersagt worden sein.

Im Laufe des Vormittags das 9.11. hatte die Pariser Botschaft das Auswärtige Amt telefonisch informiert, dass sich das Befinden vom Raths „so verschlechtert habe, daß noch heute mit seinem Tode gerechnet werden müsse“. Noch vor seinem Tod hatte Hitler ihn persönlich zum Gesandtschaftsrat I. Klasse ernannt, was um 12.45 Uhr der Personalchef des Auswärtigen Amtes telefonisch der Botschaft in Paris übermittelte in der Sorge, nicht zu spät zu kommen. Um 16.30 Uhr ist vom Rath verstorben; die wirkliche Todesursache blieb zweifelhaft, letztlich nicht umfassend geklärt. Bereits mit Telegramm an den Führer und Reichskanzler, Berlin, um 16.45 Uhr unterrichtete Dr. Brandt Hitler vom Ableben vom Raths; das Telegramm kam um 18.20 Uhr in Berlin an. Um 19.40 Uhr kondolierte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt dem in Paris sich aufhaltenden Vater. Um 20.45 Uhr veranlasste Reichsaußenminister v. Ribbentrop, der sich in München befand, telefonisch über das Auswärtige Amt, den Eltern durch Fernschreiben über die Botschaft in Paris sein Beileidstelegramm übermitteln: „Tief erschüttert habe ich soeben die Nachricht von dem Ableben Ihres Sohnes erhalten. Wir betrauern den Tod unseres Kameraden, der im Dienst für Führer und Volk einem feigen Verbrechen zum Opfer fiel.“

 

Am 8.11.1938 hatte die Rheinische Landeszeitung unter Beruf auf DNB (Deutsches Nachrichten-Büro), Paris 7.11., über das Attentat in Paris berichtet und weiter tendenziös hinzugefügt: „Dieses Verbrechen kann für die Juden in Deutschland, ganz gleich welcher Staatsangehörigkeit, nicht ohne Folgen bleiben. Seit Jahr und Tag sieht das internationale Judentum seine Hauptaufgabe darin, Deutschland zu beleidigen und zu verleumden. Jedes Mittel der Lüge, der Hetze und der Tatsachenverdrehung ist diesen jüdischen Dunkelmännern recht. Es kommt ihnen nicht darauf an, die Völker in einen blutigen Krieg hineinzuhetzen, wenn sie nur das ihnen vorschwebende Ziel der Vernichtung des nationalsozialistischen Deutschlands erreichen zu können glauben.“ und nach Erinnern an das Attentat auf den NSDAP-Landesgruppenleiter in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, am 4.2.1936 in Davos, bei dem es sich nicht um den persönlichen Racheakt eines einzelnen handelte, sondern das Verbrechen planmäßig vorbereitet und von der jüdischen Weltliga finanziert und in Szene gesetzt worden sei, einzig und allein zu dem Zweck, Deutschland zu treffen und einer allgemeinen jüdischen Hetzkampagne gegen das Reich neue Nahrung zu geben, weiter fort fuhr: „ So ist auch jetzt die Frage naheliegend, ob es die Absicht des internationalen jüdischen Verbrechergesindels war, neue Schwierigkeiten zwischen Deutschland und Frankreich heraufzubeschwören, indem man einen bezahlten Mörder in die deutsche Botschaft, also auf deutschen Boden schickte. Im nationalsozialistischen Deutschland ist wohl der unerträglich gewordene jüdische Einfluß beseitigt worden, aber keinem Juden ist dabei ein Haar gekrümmt worden, geschweige denn nach dem Leben getrachtet worden. Um so größer ist die Empörung, die dieses neue hinterhältige Verbrechen in Deutschland ausgelöst hat. Und es ist nur recht und billig, wenn für die Schüsse in der Pariser Botschaft das Judentum in Deutschland zur Verantwortung gezogen wird.“

Am Abend des 9. November, dem alljährlichen „Kampftag der NS-Bewegung“, hatten in München Hitler, Goebbels, Heydrich, Lutze bei einem „Kameradschaftsabend“ im alten Rathaus mit einer Reihe von Gauleitern und SA-Führern noch zusammen gesessen, um ihres missglückten, doch glorifizierten Putsches von 1923 zu gedenken, als zw. 19.00 und 20.00 Uhr, andere sagen um 21.00 Uhr, Hitler die Nachricht vom Ableben von Raths in Paris überbracht worden sei. Nach intensivem Gespräch mit Goebbels während des Essens hatte Hitler die Versammlung verlassen - eine der typischen Taktiken Hitlers, der in unkalkulierbaren Situation zwar seine Gefolgsleute zu weiterem Tun ermunterte, sich jedoch selbst irgendwelchen Festlegungen, seiner Anwesenheit und Person entzog. Himmler war wegen einer SS-Rekrutenvereidigung am selben Abend ebenfalls nicht mehr zugegen.

Reichspropagandaminister Goebbels hatte dann unter Bekanntgabe des inzwischen eingetretenen Todes des Attentatsopfers in einer spontanen Ansprache vor den „Alten Kämpfern“ die Stimmung gegen Juden und „ihre Verschwörungen“ angeheizt: In den Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt sei es zu judenfeindlichen Kundgebungen gekommen, jüdische Geschäfte seien zertrümmert, Synagogen in Brand gesteckt worden; der Führer habe auf seinen Vortrag entschieden, dass derartige Demonstrationen von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren seien; entstünden sie spontan, sei ihnen aber nicht entgegenzutreten. Weiter habe Goebbels sinngemäß ausgeführt, was in den Fernschreiben der Reichspropagandaleitung vom 10.11. 1938, 12 Uhr 30 bzw. 1 Uhr 40 niedergelegt sei. Die Anfeuerungen des Reichspropagandaleiters seien von sämtlichen anwesenden Parteiführern wohl so verstanden worden, dass die Partei nach außen hin nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinung treten, sie in Wirklichkeit aber organisieren und durchführen sollte. In diesem Sinne seien sie sofort – also geraume Zeit vor Durchgabe der ersten Fernschreiben – von einem großen Teil der anwesenden Parteigenossen fernmündlich an die Dienststellen ihrer Gaue weitergegeben worden. Die wenige Monate zuvor vorausgegangenen staatlich angeordneten Registrierungen von jüdischen Firmen, Geschäften und jüdischem Vermögen hatten hierfür gute Vorarbeit geleistet, so dass man wusste, wo man „wüten“ wollte.

Seinem Tagebuch hatte Goebbels tags darauf - gefangen in der eigenen Vorstellung und Propaganda - anvertraut: „Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei.“ Doch das, was in derselben Nacht überall gefolgt war, war – in der Eile von oben kaum mehr, eher hinterherhinkend gesteuert - dem Lauf der Dinge und ihrer angeheizten Dynamik vor Ort überlassen und vom antisemitischen Fanatismus von örtlichen Führern und Mitgliedern von Partei, SA und SS bestimmt, ermuntert und bestärkt vom den Feiern des Tages gemäßen Alkoholgenuss sinnlos tobend und zerstörend begonnen und ausgeführt worden.

War das, was Herschel Grynszpan in Paris getan hatte, von der NS-Propaganda böswillig und verleumdend als „Verbrechen der Judenclique“ und als „unmenschlich“ gebrandmarkt worden, so war das, was dann von den „Düsseldorfer Volksgenossen“ als „Volkszorn“ gefolgt war, in weit höherem Maße unmenschlicher: sie und ihre Funktionäre in Partei, NS-Verbände und Verwaltung hatten früh und eilfertig das Feuer geschürt und mitgemacht. Bereits nach dem Anschlag in Paris war – neben den Berichten der Rheinischen Landeszeitung - ein eilig gedrucktes, in Inhalt und Diktion unsäglich übles Boykott-Flugblatt verteilt worden, in dem es frech und wahrheitswidrig hieß: „Der Jude ist blutmäßig ein Verbrecher. Der Jude gaunert wo er nur kann, denn der Talmud (die Judenbibel) verlangt das von ihm, die anderen Rassen zu begaunern. Der Jude ist ein sittlich verkommenes Subjekt.“ Ein von der Düsseldorfer Gauleitung in der Nacht zum 10.11. dann eiligst zusammengestellter exakter Zeitplan für den „spontanen Volkszorn“: „4 Uhr Inbrandsetzen der Synagogen und Beträume, 6 Uhr der jüdischen Geschäfte in der Innenstadt, 8.00 Uhr in den Vororten und 13 Uhr Ende des Pogroms“ war durch die viel früher einsetzenden Aktionen überholt. Ebenso die in der Nacht zum 10.11. kurz nach Mitternacht um 0.22 Uhr von ORR Korreng, Vertreter von Polizeipräsident Weitzel, gesteuerte Ankündigung an andere Polizeidienststellen, dass „auf Veranlassung des Höheren SS-Führers Weitzel“ damit zu rechnen sei, dass ab sofort Aktionen gegen Juden unternommen werden. Hiergegen sei nicht einzuschreiten. Die Aktionen seien im Gegenteil zu unterstützen. Wertsachen, die beim Einschlagen von Schaufensterscheiben usw. evtl. durch Mob geplündert werden, sind von den Polizeirevieren sicherzustellen. Es ist damit zu rechnen, dass Synagogen in Flammen hochgehen. Das entsprach dem geheimen Fernschreiben des Gestapa II, gez. Müller, noch in der späten Nacht des 9.11.1938, nach dem „im Benehmen mit der Ordnungspolizei sicherzustellen sei, dass Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen unterbunden werden können und weiter, dass die Festnahme von etwa 20-30 000 Juden, vor allem vermögende, im Reiche vorzubereiten sei.

In einer eiligen Besprechung im Hotel „Vier Jahreszeiten“ um 1.00 Uhr, hatte Himmler, nachdem er sich am späten Abend noch mit Hitler in dessen Privatwohnung verständigt hatte, angeordnet, dass die SS sich aus diesem Aufruhr fern halten und nur die Gestapo im Bedarfsfalle handeln sollte. In dem dann folgenden Blitz-Fernschreiben von Heydrich aus München vom 10.11.1938, 1 Uhr 20, waren dann vom Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei folgende Weisungen an die Deutsche Polizei angeordnet: „1) … a) Es dürfen nur solche Massnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z.B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung vorhanden ist), b) Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen. c) in Geschäftsstrassen ist besonders darauf zu achten, dass nicht jüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden. d) Ausländische Staatsangehörige dürfen – auch wenn sie Juden sind – nicht belästigt werden. 2) Unter den Voraussetzungen, dass die unter 1) angegeben Richtlinien eingehalten werden, sind die stattfindenden Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern, sondern nur auf die Einhaltung der Richtlinien zu überwachen. … 6) Der Inhalt dieses Befehls ist an die zuständigen Inspekteure und Kommandeure der Ordnungspolizei und an die SD-Oberabschnitte und SD-Unterabschnitte weiterzugeben mit dem Zusatz, dass der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei diese polizeiliche Massnahme angeordnet hat. Der Chef der Ordnungspolizei hat für die Ordnungspolizei einschliesslich der Feuerlöschpolizei entsprechende Weisungen erteilt. In der Durchführung der angeordneten Massnahmen ist engstes Einvernehmen zwischen der Sicherheitspolizei und der Ordnungspolizei zu wahren.“

Die „entsprechenden Weisungen“ des Chefs der Ordnungspolizei gingen – verschlüsselt – erst am frühen Morgen um 6.30 Uhr aus Berlin an die Ordnungspolizei-Dienststellen im Reich. In ihnen wurde im Einzelnen befohlen: „1) die befehlsstellen der ordnungspolizei setzen sich sofort in einvernehmen mit den zuständigen sicherheitsorganen und in verständigung mit den zuständigen polizei verwaltungsdienststellen und treten mit den zuständigen parteidienststellen in verbindung, um genau darüber unterrichtet zu sein, wo solche demonstrationen und aktionen stattfinden. 2) die ordnungspolizei begleitet solche demonstrationen und aktionen nur mit schwachen kräften in zivil um evtl. plünderungen zu verhindern. Uniformierte ordnungspolizei wird nur im äussersten notfalle eingesetzt. Verhaftungen nimmt nur die sicherheitspolizei vor. 3) die polizeidienststellen haben sich sofort mit den parteidienststellen in verbindung zu setzen und dafür sorge zu tragen, dass brandlegungen unter allen umständen unterbleiben. 4) zerstörte offene läden, wohnungen, synagogen und geschäfte von juden sind zu versiegeln, zu bewachen, vor plünderungen zu schützen. 5) polizeiliche verstärkungen sind soweit notwendig von der allgemeinen und aktiven ss gemäss befehl des rfssuchddtpol anzufordern. 6) grössere demonstrationen und aktionen dieser art sind sofort an mich zu melden.“

Die „Aktion“ war in Düsseldorf längst im Gange. Bereits vor 22.00 Uhr hätten sich von örtlichen Funktionären zusammen getrommelt wilde Haufen zusammengerottet und demonstriert, so Peter Hüttenberger in seiner Schilderung der Ereignisse. Um 22.30 Uhr wäre dann eine Gruppe mit Messern, Äxten, Steinen, Stangen und Fackeln bewaffnet vor den jüdischen Geschäften aufgetaucht und hätten mit ihrer Zerstörung begonnen. Weitere Trupps waren bald ebenso auf dem Wege und am Werke, nicht nur bei Geschäften, Cafés und Kaufhäusern, sondern auch bei Gemeindeeinrichtungen, Synagogen und den Wohnungen jüdischer Menschen.

Johannes Höber, Augenzeuge von Ausschreitungen und Zerstörungen in dieser Nacht, hatte mit seinem Schwager einen Freund zum Bahnhof gebracht, der um Mitternacht abreisen musste, war – neugierig geworden über „unsually large number of braunshirts (eine ungewöhnlich große Zahl von Braunhemden)“ und „on two different places … gathering quietly in font of jewish business establishments (an zwei verschiedenen Orten [...], die sich leise vor jüdischen Geschäften versammelten - mit ihm anschließend noch in der Stadt unterwegs gewesen. Wenige Tage danach und sicher in Zürich hatte er das Erlebte in englischer Sprache festgehalten: „Vor einem großen Schuhgeschäft, das im Besitz einer jüdischen Frau war, deren Mann im Weltkrieg gefallen war, … war eine Abteilung SA versammelt. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie zwei von ihnen begannen – auf ein Signal hin – die Schaufenster einzuwerfen. Dann brachen sie den Eingang auf und die ganze Gruppe stürzte in den Laden hinein. Es war eine dieser modernen Einrichtungen mit viel Glas, ansprechenden vertäfelten Wänden, jedes Regal voller Schuhkartons. Zwanzig Minuten später war alles völlig verwüstet, dass keine Bombe eine gründlichere Arbeit geleistet haben könnte. Kein Stück Glas, kein Holzstück war ganz geblieben. Die Teppiche wurden zerschnitten, die Lampen von Decke und Wänden gerissen, Regale, Tische, Stühle in Stücke geschlagen. Das Problem, Tausende von Schuhen in Eile anders als durch Feuer zu zerstören, war in einer genialen Weise gelöst worden: Sie waren überall verstreut und dann Ölfarbe über und in sie hineingegossen worden. Als die Zerstörungsmannschaft ihre Arbeit beendet hatte, stand sie, einem Pfeifen-Signal folgend, in zwei Reihen vor dem Laden, in voller militärischer Disziplin, durch endloses Training eingeprägt und marschierte los. Wir stiegen in unser Auto ein und fuhren weiter. Ein paar Straßen entfernt stießen wir auf eine weitere Abteilung von SA-Truppen, die ein schickes Damenbekleidungsgeschäft plünderten. Dies geschah auf der Fifth Avenue unserer Stadt, und die Zerstörungsmannschaft entsprach der gehobenen Umgebung. Unsere Stadt ist der Wohnsitz eines Gauleiters der NSDAP. Jeder dieser Gauleiter hat einen eigenen Stab und eine Leibwache, deren Mitglieder durch rote Quadrate auf den Revers ihrer braunen Uniformmäntel leicht zu erkennen sind. Die Gruppe, die diesen Laden zerstörte, bestand fast ausschließlich aus Mitgliedern des Stabs und der Leibwache des Gauleiters unter dem persönlichen Kommando eines bekannten Nazi-Anwalts und SA-Offiziers. Ein paar Meter entfernt parkte ein Polizeiauto mit zwei leitenden Polizisten am Bordstein. Die beiden Offiziere beobachteten mit offensichtlichem Interesse die Zerstörungsarbeit, die da unter Führung eines hohen Mitarbeiters des Gauleiters stattfand. Als nächstes hielten wir vor einer Schneiderwerkstatt. Hier stelle sich der Zerstörungsmannschaft ein besonderes Problem: wie man den Vorrat an Stoffballen vernichtet. … Ein Man rollte die Ballen aus und ein anderer goss von einem Ende zum anderen Tinte über sie. Dann ließen sie sie auf der Straße liegen. … Was aber während der nächsten Stunden geschah, übertraf jedoch die schlimmsten Erwartungen, die wir beide durch sechsjährige Erfahrungen an unglaublicher Brutalität gewöhnt, jemals in Betracht gezogen hätten. Um 1.30 Uhr morgens hielten wir vor einem Wohnhaus an, weil wir zwei SA-Posten da sahen, die die Haustür bewachten. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig stand eine kleine Gruppe von Zivilisten, die eine hell erleuchtete Wohnung im vierten Stock beobachteten. Wir schlossen uns ihnen an und fragten einen, was los war. 'Sie rächen sich wegen vom Rath', sagte er. 'Welches Unternehmen hat dort sein Büro?', fragte ich. 'Das ist kein Büro, das ist eine private Wohnung, die von einem jüdischen Mieter bewohnt ist'. Bevor wir unser Gespräch fortsetzen konnten, kam einer der SA-Posten über die Straße und befahl uns weiterzugehen. Einige Sekunden danach stürzten die Fenster der Wohnung in Splittern auf die Straße hinunter, und die Lichter in der Wohnung gingen eines nach dem anderen aus. Das letzte war ein großer Kristall-Leuchter, den wir wild auf und ab pendeln sahen, bevor wir hörten, wie er zu Boden stürzte. Dann ergriff uns Panik.“

Wie dieser Augenzeugenbericht – und neben ihm viele andere – zeigen, waren diese Zerstörungen in Düsseldorf kein „spontaner Volkszorn“, auch nicht spontan, sondern wohl organisiert. Die „Zerstörungsmannschaften“ waren Parteimitglieder, Angehörige der SA und erkennbar in ihrer Uniform, unter ihnen Ärzte, Juristen, Verwaltungsleute, Postarbeiter, viel später auch parteilose Randalierer, zwielichtiges Nachtgesindel und abenteuerlustige HJler, Betrunkene, Passanten. Wenn auch organisiert, verlief doch alles weitgehend ungesteuert im Einzelnen, eher chaotisch, doch desto ungezügelter in fanatischem Judenhass und ungebremster Zerstörungswut und -lust - mitunter in Rivalität sich zu übertreffen versuchend, wer eilfertiger sei und das größere Wüten habe. „Die Aktion hatte Methode, geriet jedoch zum Chaos und wurde für die Betroffenen zur Katastrophe“. Bis zum Morgen des folgenden Tages -“die vorher uniformierten Gruppen [nun] in Zivil, inzwischen war also wohl sogar den Leitern der Aktion klar geworden, dass nicht einmal ein Analphabet an die Spontaneität der 'Demonstrationen' glauben würde, wenn die Plünderungstruppe in voller Uniform mit ihren Sturmnummern auf den Kragenspiegeln bei Tageslicht weiterarbeiten würden“ - dauerten die Ausschreitungen, Plünderungen, Verwüstungen von Geschäften, Gemeindeeinrichtungen und Wohnungen, das Inbrandsetzen der großen Synagoge in der Kasernenstraße – angeblich sei ein Kurzschluss die Ursache gewesen, der kleinen Synagoge in der Kreuzstraße und etwas später dann der Benrather Synagoge, auch die rohen Drangsalierungen, Misshandlungen, Verletzungen, sogar Tötungen jüdischer Menschen an. In Düsseldorf sollen sie brutaler und grausamer gewesen sein als anderswo, wohl weil sich Gauleiter Florian als besonders folgsam und eifrig gegenüber seinen NS-Konkurrenten vor Ort, dem Regierungspräsidenten und dem SS-Polizeipräsidenten Weitzel hervortun und seine Blamage über jüngste Skandale von Vetternwirtschaft und Korruption in der Stadtverwaltung vergessen lassen wollte, vielleicht auch, weil der verstorbene vom Rath als „Düsseldorfer“ beansprucht wurde. Mehr als 450 Wohnungen und Geschäftsräume jüdischer Menschen waren überfallen, mindestens 70 von ihnen unter brutalen Misshandlungen teilweise schwer verletzt und 13 getötet, tödlich verletzt oder in den Tod getrieben worden. Das Schicksal dieser 13 zu Tode gekommener jüdischen Menschen ist dokumentiert: Eva Cohen († 29.12.1939), Else Goldschmidt († 30.12.1938), Stefan (Sally) Goldschmidt († 17.11.1938), Selma Heumann († 27. 1.1940), Eva Hölters († 15.11.1938), Rudolf Hölters († 2.12.1938), Dr. Alfred Joseph († 29.11. 1938), Wilhelm Lewkowitz († 10.11.1938), Paul Marcus († 10.11.1938), Simon Pinkus († 27. 12.1938), Paula Rath († 30.11.1938), Adolf Schaumberg († 26.12.1938), Carl Weyl († 28.12. 1938).

Noch in der Nacht und im Laufe des 10.11.1938 waren in Düsseldorf durch die Gestapo und sie unterstützende Kriminal-, auch Schutzpolizei mindestens 141 Menschen festgenommen und ins Polizeigefängnis Düsseldorf am Mackensenplatz eingeliefert worden, darunter auch 18 Frauen und sechs Kinder zwischen fünf und fünfzehn Jahren, auch eine nicht unerhebliche Anzahl älterer Männer bis zum Alter von 80 Jahren. Unter den Männern waren Kaufleute, Handwerker, Ärzte, Rechtsanwälte („Rechtskonsulenten“), Angestellte, gelernte und ungelernte Arbeiter. Einige folgten in den darauf folgenden Tagen. Das Polizeigefängnis mit seinen 54 Einzel- und nur wenigen Sammelzellen war hoffnungslos überbelegt; die Zustände katastrophal. Medizinische Betreuung mangelhaft. Frauen und Kinder ebenso wie die alten Menschen wurden am 11. bzw. 12.11. wieder entlassen. Von den zwischen dem 10. und 16.11. in Haft genommenen Personen wurden 87 Männer am 16.11. in das Konzentrationslager Dachau deportiert, darunter sieben Männer, die andernorts ihren Wohnsitz hatten, aber in Düsseldorf angetroffen worden waren, wo man sie wochen- und monatelang als „Aktionsjuden“ festhielt und drangsalierte. Hans (Herschel) Rothbein (* 28.5.1893 Warschau, Uhrengehäusemacher, Luisenstr. 110) hatte am 15.12. 1938 Selbstmord im Düsseldorfer Polizeigefängnis begangen.

Für den Tag darauf, den 10.11.1938, hatte Goebbels folgenden Aufruf an die Bevölkerung erlassen, der „auf der ersten seite gross aufgemacht werden“ sollte, „am besten im kasten“: „Die berechtigte und verständliche Empörung des Deutschen Volkes über den feigen jüdischen Meuchelmord an einem deutschen Diplomaten in Paris hat sich in der vergangenen Nacht Luft verschafft. In zahlreichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsaktionen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen. Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerung die strenge Anforderung, von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen. Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat in Paris wird auf dem Wege der Gesetzgebung bezw. der Verordnung dem Judentum erteilt werden.“

Gelogen und eine zynische Verharmlosung der tatsächlichen 24-stündigen Hetzjagd gegen unschuldige Menschen und Zerstörung ihrer Lebensgrundlage war, was die Rheinische Landeszeitung am Tag danach berichtete, dass die Düsseldorfer Volksgenossen – „von ungeheurer Empörung über das schändliche Attentat des Mordbuben beseelt“ – in großen Scharen durch die Straßen zogen und es „nur der außerordentlichen Disziplin der Bevölkerung zu verdanken sei, wenn die Rassegenossen des feigen Mörders vor Schaden an Leib und Leben bewahrt“ blieben und nur „die jüdischen Geschäfte der berechtigten Wut des Volkes anheim“ fielen, hier „radikal 'aufgeräumt'“ wurde. Heuchlerisch waren auch die Behauptungen, es habe keine Plünderungen gegeben: „unsere Volksgenossen sind viel zu stolz, um sich an der Habe eines Juden zu bereichern“, oder Juden hätten sich bei Volksgenossen bedankt dafür, dass „man so glimpflich mit ihnen umgegangen sei und vor allem ihr Leben geschont habe“ oder dass Juden sich sogar unter den Schutz der Polizei gestellt hätten, die im übrigen dem berechtigten Volkszorn keinen Einhalt gebieten konnte“ - wohl wissend, dass es anders war.

Doch nicht überall war wieder Ruhe, so dass Heydrich für die Sicherheitspolizei am Abend des 10.11. nochmals per Blitz-Fernschreiben nachhalten musste: „ Die Protestaktionen sind eingestellt (s. Presse- und Rundfunkmeldungen). Im Benehmen mit der Ordnungspolizei ist für die kommende Nacht verstärkter Streifendienst einzusetzen. Etwa noch erfolgende Aktionen sind möglichst zu verhindern, jedoch ist hierbei Rücksicht zu nehmen auf die berechtigte Empörung der Bevölkerung. Gegen Plünderer ist rücksichtslos einzuschreiten. Die Festnahmeaktionen werden ohne Einschränkung und ausschliesslich von den Staatspolizei(leit)stellen fortgesetzt“. In einem weiteren Fernschreiben teilte er darüber hinaus mit, dass das Reichsjustizministerium „die Staatsanwälte angewiesen [habe], keine Ermittlungen in Angelegenheiten der Judenaktionen vorzunehmen.“

 

Danach ...

„Der materielle Schaden des Pogroms war groß, weitaus größer, als es sich die Urheber vorgestellt hatten.“ Er soll über 220 Mio. RM betragen haben. Etliche Regierungsmitglieder, darunter Göring, Himmler, Heydrich, Funk und Rosenberg, distanzierten sich schnell von diesen rohen Verwüstungen; sie wiesen Goebbels die Alleinverantwortung für die unvorhersehbaren außen- und wirtschaftspolitischen Folgen zu. In einer nachfolgenden Besprechung am Vormittag des 10.11. warf ihm Göring, der als Beauftragter für den Vierjahresplan um seine weitere Durchführung und damit der Aufrüstung fürchtete, vor, seine Aktion habe aus ökonomischer Ignoranz die „volkswirtschaftlich unsinnige Zerstörung von Sachwerten“ herbeigeführt, die er dem – finanziell am Kollaps stehenden - deutschen Staat gern als Raubgut zugeführt hätte. Die Bestandsaufnahme zeigte, dass ein Großteil der zerstörten „jüdischen“ Geschäftsräume und Wohnungen „Ariern“ gehörte, von Juden nur gemietet war; die Versicherungsgesellschaften mussten diese Schäden ersetzen. Allein der Glasbruch bei den Geschäften kostete annähernd drei Millionen, die gesamten Versicherungsschäden wurden auf 225 Millionen Reichsmark beziffert. In die Debatte hatte Heydrich einen ersten vorläufigen Überblick über die Zerstörungen geworfen: 101 Synagogen durch Brand vernichtet, 76 demoliert, 75000 Geschäfte zerstört, 35 Tote. Worauf Göring Heydrich zynisch kommentierte: „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet.“

Hitler jedoch nahm Goebbels in Schutz. Er befand sich 1938 innen- und außenpolitisch auf dem Höhepunkt seiner Macht. Auch deshalb blieben breite öffentliche Proteste oder gar Widerstand gegen die Pogrome aus. Die deutsche Öffentlichkeit sah weitgehend passiv zu, wie die jüdische Minderheit in Deutschland an Leib und Leben bedroht, von Vertretern der Staats- und Parteimacht ermordet, ihrer Versammlungs- und Gebetsorte, Traditionen und Güter beraubt und erstmals massenhaft in Konzentrationslager gesperrt wurde. Die meisten Bürger fürchteten die die Straßen schnell beherrschenden Schlägerbanden der SA, auch die SS und scheuten jedes Auffallen, gar abweichendes Verhalten in einem inzwischen totalitären Polizeistaat, in dem „Blockwarte“, Nachbarn, Sammler für die NS-Hilfswerke und Bekannte jeden schnell denunzieren und an die Gestapo ausliefern konnten.

Gauleitung und Rheinische Landeszeitung hatten am 12.11.1938 mit dem Hinweis, die Familie vom Rath sei in Düsseldorf beheimatet gewesen, Ernst vom Rath als neuen, weiteren Düsseldorfer „Märtyrer der Bewegung“ vereinnahmt. Ein „Staatsbegräbnis“ war von Hitler angeordnet und aufwendig in Szene gesetzt: Nach einer Trauerfeier in Paris war der Sarg mit dem Leichnam des Verstorbenen in Begleitung des Staatssekretärs, des Botschafters und weiterer in einem Sonderzug nach Deutschland gebracht worden; die Eltern waren bereits nach der Trauerfeier in der Kirche am Vortage aus Paris abgereist. Am 17.11.1938, in der Frühe, war der Zug mit dem Sarg und dem Trauergeleit in Aachen in aufwendiger Zeremonie auf deutschem Boden vom dortigen Gauleiter begrüßt und dann auf die Weiterfahrt nach Düsseldorf geschickt worden. Viele Schaulustige sollen die Zugfahrt auf der Strecke und in den einzelnen Orten begleitet, die Kirchenglocken geläutet haben. In Düsseldorf war alles vorbereitet; der Außenminister kurz zuvor eingetroffen, als der Sonderzug um 9.50 Uhr in den Hauptbahnhof einfuhr - mit Hakenkreuzen geschmückt. „In seinem Zeichen zog ein junger, lebensfroher Kamerad unserer Bewegung hinaus in die Welt. Im gleichen Zeichen kehrt er, bleich und stumm, nunmehr heim, gefällt von jüdischer Mörderhand, gefallen als Soldat und vorderster Front für die große Idee: Deutschland.“ so der Völkische Beobachter das Bild in theatralisch-pathetischer wie boshaft verlogener Sprache zugleich allen Lesern übermittelnd. Nach einer feierlichen Begrüßungszeremonie noch auf dem mit Fahnen und schwarzer Ausstaffierung dekorierten Bahnsteig bewegte sich der Trauerzug mit dem Sarg auf einer Artillerielafette, angeführt von Fahnen tragenden NS-Formationen, gefolgt von dem Vater, den beiden Brüdern und NS-Prominenz, begleitet von den Spalieren von mit zahlreichen Sonderzügen herbei gefahrenen NS- und weiteren neugierigen Düsseldorfer Volksgenossen durch die mit Fahnen, schwarzen Behängen und mit Feuerschalen gekrönten Pylonen nach dem Muster des quasireligiösen Totenkults der Münchener Blutzeugen-Gedenkumzüge zum 9.11. pompös wie düster ausstaffierten Straßen vom Bahnhof über die Graf-Adolf-Straße, Königsallee, Elberfelder Straße, Hindenburgwall zur Rheinhalle (Planetarium). Nach einer „Staats-Trauerfeier“ in der dunkel ausgeschlagenen Rheinhalle mit Hitler und unter „Beteiligung der höchsten Stellen von Partei und Staat“, an der – notgedrungen – die Familie teilnahm, der solcher Spektakel eher zuwider war, wurde der Sarg mit dem Leichnam weiter zum Nordfriedhof überführt und dort in der „Familiengruft“ - es war allein die Grabstätte des Großvaters – beigesetzt - „heimgeführt in die Stadt seiner Väter“.

Das war kein Staatsbegräbnis, das den Toten und seine Familie würdigte. Da waren keine Menschen, die mit ihr litten und wirklich trauerten. Es war ein makabres, unpersönliches und heuchelndes, den „toten Kameraden“ und seine Familie allein zum Objekt, zur willkommenen Kulisse degradierendes, „auf finstere Entschlossenheit abgestimmte(s) Schauspiel“, eine düstere Inszenierung der „Bewegung“, die „Staat“ allein für diese machte und seine Fassade nutzte, um ihm – wie inzwischen Brauch - die Kosten für diesen „Staat“ aufzudrücken.

Es gehörte zur nationalsozialistischen Gehässigkeit und Niedertracht, dass die jüdischen Opfer für diese verbrecherischen Zerstörungen ihrer Habe noch „harte Sühne“ leisten sollten: sie mussten nicht nur auf eigene Kosten das verwüstete Straßenbild ihrer Geschäfte und Wohnungen wieder herstellen – ihre Versicherungsansprüche wurden zugunsten des Reichs beschlagnahmt, sondern auch eine exorbitante Sühne von 1.000.000.000 RM leisten und wurden aus dem deutschen Wirtschaftsleben ausgeschlossen. An den Reichsverteidigungsrat hatte Göring am 18.11, geschrieben: „Sehr kritische Lage der Reichsfinanzen. Abhilfe zunächst durch die der Judenschaft auferlegte Milliarde und durch die Reichsgewinne bei der Arisierung jüdischer Unternehmen.“ Die Wucht der Schläge, mit denen man die Juden neben der Stigmatisierung und Ab- und Aussonderung auch ihrer wirtschaftlichen und Lebens-Grundlagen beraubt hatte, verwandelte die verbliebenen in einen „gebrochenen Rest“.

Doch das waren nur die Anfänge der „Erziehung zur Unmenschlichkeit“: Nur wenige Tage danach hatte Gauleiter Florian – die Maske fallen lassend – auf einem Kreisapell der DAF verkündet: „Wir befähigen das Volk zu Höchstleistungen, wenn wir alle Momente ausschalten, die störend wirken könnten. Wenn es heute noch bei manchen Volksgenossen an der richtigen Einstellung fehlt, dann sind noch geistige Quellen vorhanden, die einen verderblichen Einfluß ausüben. Diese Quellen des Unheils müssen ausgetilgt werden. Eine der Hauptquellen ist das Judentum. Die Aktion gegen die Juden bedeutet eine große Säuberungsaktion, um alles Schlechte auszumerzen. Es geht nicht nur darum, den Einfluß der Juden zurückzudämmen, nein, wir haben A gesagt, und wir werden auch B sagen. Es kommt der Tag, da wird in Deutschland kein Jude mehr sein. Wer vom Mitleid faselt, der verdient nichts als Ungeziefer.“

Die, die Novemberpogrome überlebt hatten, mussten mit ihrer „harten Sühne“ indirekt auch den Beginn eines neuen Krieges mitfinanzieren, in dessen Verlauf als eines der obersten Ziele - schlimmer, erbarmungsloser, unendlich grauenvoller und ungeheuerlicher – unter dem verharmlosenden Begriff der „Behandlung der Judenfrage“ auch ihre „Endlösung“, ihre Vernichtung folgen sollte.

Von denen, die in Düsseldorf bereits so erbarmungslos gewütet, geplündert, zerstört und Menschen gepeinigt, verletzt in den Tod getrieben oder getötet hatten, war keiner festgenommen und ins Polizeigefängnis eingeliefert worden. Verurteilt wurden nur die, die sich ihnen spontan angeschlossen und aus „eigennützigen und verbrecherischen Beweggründen“ die Gelegenheit genutzt hatten, sich wertvolle Dinge widerrechtlich anzueignen. Ihnen war vorgeworfen worden, dass sie „die Aktion gegen die Juden benutzt“ hatten, um durch Diebstähle persönliche Vorteile heraus zu schlagen, und dass ihre „Aktion geeignet war, die Aktion in Mißkredit zu bringen“.

 

Michael Dybowski,
Polizeipräsident a.D., Vorsitzender des Vereins „Geschichte am Jürgensplatz e.V.“ (31.12.2021)

 

 

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