… Für einen Moment herrschte Schweigen und Stille

Für alle Beteiligten war es ein bewegender Moment: Michael Dybowski, Vorsitzender des Vereins „Geschichte am Jürgensplatz e.V.“, und sein Stellvertreter Hermann Spix waren am 31. Januar 2020 nach Münster gereist, um der Direktorin des US Holocaust Memorial Museum in Washington D.C., Sara Bloomfield, Dokumente aus dem Bestand des Vereins zu übergeben. Sara Bloomfield war zur Eröffnung einer vom US Holocaust Memorial Museum erarbeiteten Wanderausstellung „Einige waren Nachbarn“ nach Münster gekommen, deren pädagogisches Begleitprogramm und nachfolgende Tour durch Nordrhein-Westfalen maßgeblich von der Villa ten Hompel, Münster, in enger Zusammenarbeit mit dem Museum entwickelt wurde.

 Bei der Übergabe der Dokumente an Sara BloomfieldBei der Übergabe der Dokumente an Sara Bloomfield
(v.l.n.r.: Thomas Köhler, Villa ten Hompel, Münster; Dr. Klaus Müller, Europa-Repräsentant des US Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.; Michael Dybowski, Polizeipräsident a.D./Vorsitzender „Geschichte am Jürgensplatz e.V.“, Düsseldorf; Sara Bloomfield, Direktorin des US Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.; Hermann Spix, Stellvertr. Vorsitzender „Geschichte am Jürgensplatz e.V.“, Düsseldorf; Martin Hölzl, Historiker, USHMM)

 

Vor über einem Jahr hatte das Museum in der amerikanischen Hauptstadt – angeregt durch einen Vortrag unseres Mitglieds Thomas Köhler – Interesse an den Originalen zweier Feldpost-Briefe bekundet, die Wachtmeister K. Dreyer vom Reserve-Polizei-Bataillon 67 aus Essen im November 1942 aus dem Einsatzgebiet im Generalgouvernement an seine Familie geschickt hatte: Darin hatte er in hämischem Tonfall seine Beteiligung an der Ermordung jüdischer Menschen im November 1942 beschrieben. In dem zweiten Feldpost-Brief hatte er seiner Frau mitgeteilt, dass er einer Getöteten, einer Jüdin, die Stiefel ausgezogen habe; sie seien gut tragbar und könnten für den Sohn hergerichtet werden. Ergänzt wurden die Briefe durch Kopien zweier Fotografien, die den Sohn daheim in Essen mit Kindern aus der Nachbarschaft zeigen mit der nebenstehenden Beschriftung: „meine Stiefel“.

Der Wunsch des US Holocaust Memorial Museum, vorgetragen auf der vorjährigen Mitgliederversammlung von Thomas Köhler, hatte bei den anwesenden Mitgliedern einhellige Zustimmung gefunden. Das Museum möchte seine Dauerausstellung in Washington, die die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Menschen bislang meist aus der Opferperspektive zeige, um aussagekräftige Dokumente zur Täterperspektive ergänzen und ausbauen.

Sara Bloomfield nahm die Schenkung entgegen und betrachtete die Schriftstücke schweigend. Sie war sichtlich bewegt. Sie hielt authentisches Material eines Täters von damals in Händen. Für einen Moment herrschte Schweigen und Stille.

 

Sara Bloomfield bei der LektüreSara Bloomfield bei der Lektüre

 

Dann bedankte sie sich herzlich im Namen des Museums, hob die Bedeutung der Dokumente für ihr Haus hervor und betonte, dass sie uns ermöglichen zu sehen, wie die Täter ihre Verbrechen sahen und sie gerechtfertigt haben. Nicht nur die Opfer in den Blick zu nehmen sondern auch die Täter – und alle! - sei wichtig, unverzichtbar, denn – so betonte sie in ihrer Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung „Einige waren Nachbarn“:

 

“... History leaves us uncomfortable. And this discomfort is the beginning of understanding. To realize that the Holocaust — the systematic murder of six million Jews — was made possible not solely because of the Nazi leadership and “true believers.“ But because ordinary people in Germany and throughout Europe were motivated by various reasons to acquiesce or collaborate. Many were motivated by antisemitism which had been deeply engrained in European culture for almost 2 millennia. Yet recent scholarship shows that individuals who refused to participate were not severely punished and that the motivations for those who did participate also included mundane reasons such as greed, peer approval, and career advancement.
So part of the answer of why the Holocaust was possible lies in us. Ordinary people. The Nazi leadership counted on ordinary people — on indifference from most and collaboration from many. And they got it. ...“

(übersetzt) „Die Geschichte lässt uns unbehaglich zurück. Und dieses Unbehagen ist der Anfang des Begreifens: Zu erkennen, dass der Holocaust – die systematische Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden – nicht nur durch die Nazi-Führung und ihre „unbedingten Gefolgsleute“ ermöglicht wurde, sondern durch gewöhnliche Menschen in Deutschland und ganz Europa, die aus verschiedenen Gründen motiviert waren, diese Ermordung zu dulden oder zu unterstützen. Viele waren motiviert durch den Antisemitismus, der seit fast zwei Jahrtausenden in der europäischen Kultur tief verwurzelt war. Jüngere Forschung aber zeigt, dass Einzelne, die sich weigerten mitzumachen, nicht streng bestraft wurden und dass die Beweggründe für die, die mitmachten, auch sehr banale Gründe einschlossen wie Gier, Anerkennung von Kollegen und Kameraden oder Beförderungsmöglichkeiten.
So liegt ein Teil der Antwort, wie der Holocaust möglich wurde, in uns. In gewöhnlichen Menschen. Die Nazi-Führung zählte auf die einfachen Leute – auf die Gleichgültigkeit der meisten und die Zusammenarbeit vieler. Und die haben sie bekommen“

 

Hermann Spix im Gespräch mit Sara BloomfieldHermann Spix im Gespräch mit Sara Bloomfield

 

Deswegen und ihres historischen Gewichts wegen sei es unbedingt notwendig, solche Quellen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie wolle mit dem Verein und seinen Mitstreitern weiter im Gespräch über diese wichtige Arbeit bleiben.